Das Handeln entspringt nicht dem Denken, sondern der Bereitschaft zur Verantwortung. Der letzte Test für eine moralische Gesellschaft ist die Art der Welt, die sie ihren Kindern hinterlässt“

Dietrich Bonhoeffer

Dietrich Bonhoeffer – Theorie der Dummheit

Dietrich Bonhoeffer wurde wegen seiner Beteiligung an einem Komplott gegen Adolf Hitler im Morgengrauen des 9. April 1945 im Konzentrationslager Flosssenbürg hingerichtet. Nur zwei Wochen vor der Befreiung des Lagers durch Soldaten der Vereinigten Staaten.

Es war das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. Eine Zeit, in der ein aufgestachelter Mob Steine in die Schaufenster unschuldiger Ladenbesitzer warf und Frauen und Kinder auf grausame Weise und auf offener Straße gedemütigt wurden.

In dieser Zeit begann der junge Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, sich öffentlich gegen die Grausamkeiten zu äußern. Nachdem er jahrelang versucht hatte, die Menschen zum Umdenken zu bewegen, kam Bonhoeffer eines Abends nach Hause. Sein eigener Vater teilte ihm mit, dass zwei Männer in seinem Zimmer warteten, um ihn festzunehmen. Im Gefängnis begann Bonhoeffer darüber nachzudenken wie sich „sein Land der Dichter und Denker“ in ein Kollektiv von Feiglingen, Gaunern und Verbrecher verwandelt hatte. Er kam letztendlich zu dem Schluss, dass die Wurzel des Problems nicht „Bosheit“, sondern „Dummheit“ war.

In seinen berühmten Briefen aus dem Gefängnis vertrat Bonhoeffer die Ansicht, dass die Dummheit ein gefährlicherer Feind des Guten sei als die Bosheit (1).

Ich zitiere Dietrich Bonhoeffer aus diesem Buch wörtlich:

Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse lässt sich protestieren, es lässt sich bloßstellen, es lässt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, in dem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurücklässt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protestieren noch durch Gewalt lässt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch – , und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtsagende Einzelfälle beiseitegeschoben werden. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden; ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht. Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen. Niemals werden wir mehr versuchen, den Dummen durch Gründe zu überzeugen; es ist sinnlos und gefährlich.

Um zu wissen, wie wir der Dummheit beikommen können, müssen wir ihr Wesen zu verstehen versuchen. Soviel ist sicher, dass sie nicht wesentlich ein intellektueller, sondern ein menschlicher Defekt ist. Es gibt intellektuell außerordentlich bewegliche Menschen, die dumm sind, und intellektuell sehr Schwerfällige, die alles andere als dumm sind. Diese Entdeckung machen wir zu unserer Überraschung anlässlich bestimmter Situationen. Dabei gewinnt man weniger den Eindruck, dass die Dummheit ein angeborener Defekt ist, als dass unter bestimmten Umständen die Menschen dumm   g e m a c h t    werden, bzw. sich dumm machen lassen. Wir beobachten weiterhin, dass abgeschlossen und einsam lebende Menschen diesen Defekt seltener zeigen als zur Gesellung neigende oder verurteilte Menschen und Menschengruppen. So scheint die Dummheit vielleicht weniger als psychologisches als ein soziologisches Problem zu sein. Sie ist eine besondere Form der Einwirkung geschichtlicher Umstände auf Menschen, eine psychologische Begleiterscheinung bestimmter äußeren Verhältnisse. Bei genauerem Zusehen zeigt sich, dass jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Art, einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt. Ja, es hat den Anschein, als sei das geradezu ein sozial-psychologisches Gesetz. Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen. Der Vorgang ist dabei nicht der, dass bestimmte – also etwa intellektuelle – Anlagen des Menschen plötzlich verkümmern oder ausfallen, sondern dass unter dem überwältigenden Eindruck der Machtentfaltung dem Menschen seine innere Sicherheit geraubt wird und dass dieser nun – mehr oder weniger unbewusst – darauf verzichtet, zu den sich ergebenden Lebenslagen ein eigenes Verhalten zu finden. Dass der Dumme oft bockig ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er nicht selbständig ist. Man spürt es geradezu im Gespräch mit ihm, dass man es nicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen -Schlagworten, Parolen etc. zu tun hat. Er ist in einem Banne, er ist verblendet, er ist in seinem Wesen missbraucht, misshandelt. So zum willenlosen Instrument geworden, wird der Dumme auch zu allem Bösen fähig sein und zugleich unfähig, dies als Böses zu erkennen. Hier liegt die Gefahr eines diabolischen Missbrauchs. Dadurch werden Menschen für immer zugrunde gerichtet werden können.

Aber es ist gerade hier ganz deutlich, dass nicht ein Akt der Belehrung, sondern allein ein Akt der Befreiung die Dummheit überwinden könnte. Dabei wird man sich damit abfinden müssen, dass eine echt innere Befreiung in den allermeisten Fällen erst möglich wird, nachdem die äußere Befreiung vorangegangen ist; bis dahin werden wir alle Versuche, den Dummen zu überzeugen, verzichten müssen. In dieser Sachlage wird es übrigens auch begründet sein, dass wir uns unter solchen Umständen vergeblich darum bemühen, zu wissen, was „das Volk“ eigentlich denkt, warum diese Frage für den verantwortlich Denkenden und Handelnden zugleich so überflüssig ist – immer nur unter den gegebenen Umständen. Das Wort der Bibel, dass die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit sei (Psalm 111, 10), sagt (2), dass die innere Befreiung des Menschen zum verantwortlichen Leben vor Gott die einzige Überwindung der Dummheit ist.

Übrigens haben diese Gedanken über die Dummheit doch dies Tröstliche für sich, dass sie ganz und gar nicht zulassen, die Mehrzahl der Menschen unter allen Umständen für dumm zu halten. Es wird wirklich darauf ankommen, ob Machthaber sich mehr von der Dummheit oder von der inneren Selbständigkeit und Klugheit der Menschen versprechen.

1 Aus Dietrich Bonhoeffer „Widerstand und Ergebung“, Briefe und Aufzeichungen aus der Haft, herausgegeben von Eberhard Bethge, Chr. Kaiser Verlag München 1966
2 Psalm 111,10 Der Weiheit Anfang ist die Furcht des Herrn. Rechte Einsicht haben alle, die sie üben; sein Lobpreis hat Bestand für ewig.